Jazzrocker John McLaughlin: «Musik ist Mystik» | NZZ (2024)

Jazzrocker John McLaughlin: «Musik ist Mystik» | NZZ (1)

Als er die erste Gitarre in die Finger bekam, war er elf. Ein Bruder hatte sie nach Hause gebracht, aber bald die Lust am Schrummen verloren. Einem zweiten Bruder ging es gleich, und er überliess das lästige, klapprige Ding, das einem Dobro glich, dem kleinen John. So begann in einem Kaff im südlichen Yorkshire die Karriere eines der bedeutendsten Jazz- und Rockgitarristen unserer Zeit.

John McLaughlin, geboren am 4.Januar 1942 in Kirk Sandall, tauchte als Teenager zunächst in den Blues ein. Seine erste eigene Platte war eine von Muddy Waters. «Aber dann kam schon der Flamenco», erinnert er sich im Gespräch, für das er sich bereitwillig Zeit nimmt, «und zwar gleich in Gestalt des Virtuosen Sabicas. Der blies mich um.»

«Ich habe nicht das Gefühl, Musik zu machen. Eher erlebe ich es so, dass ich sie nur zulassen muss, indem ich mich öffne und leer werde.»

Mit Jack Bruce und Ginger Baker, die wenig später mit Eric Clapton die Supergruppe Cream bildeten, spielte er schon 1963 zusammen. Nicht auszudenken, wie die Rockgeschichte verlaufen wäre, wenn er die Stelle Claptons eingenommen hätte! Doch dann kam der Jazz dazwischen.

Mit Ian Carr und Gunter Hampel ging es los. Der Bassist Dave Holland lud McLaughlin 1969 in die USA ein, und der junge Brite wirkte auf den bahnbrechenden Alben «In A Silent Way», «Bitches Brew» und «Tribute To Jack Johnson» des Jahrhundertgenies Miles Davis mit, bei dem Dave Holland damals spielte. Gleichzeitig gründete er mit dem Schlagzeuger Tony Williams die Band Lifetime, eine der besten Jazzrock-Formationen jener Zeit.

Zum Festival «JazznoJazz»

Das Zürcher Festival «JazznoJazz» läuft vom 30. Oktober bis zum 2. November. John McLaughlin tritt mit seiner Band The 4th Dimension am Eröffnungsabend in der Gessnerallee auf. Weitere Attraktionen in der 21. Ausgabe sind Morcheeba, Charles Lloyd, Rickie Lee Jones, Level 42, Juan de Marcos’ Afro-Cuban All Stars und The Brand New Heavies. (pap.)

Die kurzen wilden Jahre von Sex, Drugs und Rock’n’Roll nahmen für McLaughlin ein jähes Ende, als er unter dem Einfluss des hinduistischen Gurus Sri Chinmoy (1931-2007), der seit 1964 in den USA lebte, die Spiritualität entdeckte. Seither sucht man im Leben des Gitarristen, der viermal geheiratet hat, vergeblich nach Skandalen. 1971 gründete er die Fusion-Gruppe Mahavishnu Orchestra. Das Quintett mit Billy Cobham am Schlagzeug schrieb Geschichte.

Weiss gewandet und geläutert präsentierte McLaughlin sich 1973 Seite an Seite mit Carlos Santana, mit dem er das Album «Love Devotion Surrender» aufnahm und damit der inbrünstigen Hymnik John Coltranes Tribut zollte; mit dem Bandprojekt «Shakti» machte er die indische Musik im Westen auf nachhaltigere und professionellere Weise populär als beispielsweise der Beatle George Harrison unter dem Einfluss des Sitar-Papstes Ravi Shankar. Eine weitere Stufe der Popularität erlangte er im Trio mit Paco de Lucia und Al Di Meola. Die drei Gitarrenhelden füllten mit ihren halsbrecherischen Läufen die Säle und verkauften vom Live-Album «Friday Night In San Francisco» zwei Millionen Exemplare.

«Es waren Jahre», sagt McLaughlin im Rückblick, «in denen eine breite Öffentlichkeit offen war für anspruchsvolle, innovative Musik. Heute ist die Szene zersplittert. Es gibt keine Osmose mehr zwischen den Sparten.» Gleichwohl bleibt der 77-jährige Künstler, der immer noch fit ist wie ein Turnschuh, unverdrossen. Seit 2009 verfolgt er das Bandprojekt «The 4th Dimension», mit dem er Kompositionen aus allen seinen Schaffensphasen neu interpretiert.

Zur derzeitigen Formation gehören der amerikanische Keyboarder Gary Husband, der aus Kamerun stammende, in Paris aufgewachsene Bassist Etienne Mbappé und der indische Drummer Ranjit Barot. Mbappé und Baro könnten McLaughlins Söhne sein, doch sie begegnen ihm auf Augenhöhe. «Es ist unglaublich, wie wir uns verstehen», sagt der Gitarrist. «Mit diesen dreien gelingt es mir, in der Musik das zu sagen, was ich beim besten Willen nicht in Worten ausdrücken kann.»

McLaughlin ist überzeugt, dass sich in der Musik sein Inneres nach aussen kehrt, ohne den Weg übers Bewusstsein zu nehmen. «Ich habe nicht das Gefühl, Musik zu machen», sagt er; «eher erlebe ich es so, dass ich sie nur zulassen muss, indem ich mich öffne und leer werde. Das geschieht auch, wenn ich allein musiziere. Aber im kollektiven Spiel ereignet es sich auf besondere Weise. Musik ist Mystik. Man vergisst sich ganz, ist nicht mehr in seinem Körper und existiert nur noch im gemeinsamen Klang.»

Dieses mystische Erleben schliesst für McLaughlin Weltläufigkeit und Humor nicht aus. Er lacht gern. Vom Rap und Folk lässt er sich so faszinieren wie von der Oper. Sorgen macht er sich jedoch über die Entwicklung der Musikindustrie. «Sie ist nicht nur ökonomisch weitgehend zusammengebrochen», sagt er. «Der Werkcharakter des Albums, bei dem Künstler in grösseren Zusammenhängen denken, geht beim Streamen einzelner Songs verloren. Dass man sich Musik als Hörer auch erarbeiten muss und dafür einen höheren Genuss hat, ist in der Welt des ubiquitären Gedudels nicht mehr gefragt.»

«Miles Davis hat mir damals nicht nur musikalische Welten eröffnet. Er hat mir auch immer Geld zugesteckt, wenn ich klamm war.»

Das Angebot auf Youtube ist für John McLaughlins Begriffe zwar riesig, aber so unstrukturiert, dass niemand sich mehr orientieren kann. Die Leitsterne verschwinden im kosmischen Staub. Und nicht nur für die Zuhörer – der Gitarrist vermeidet das Wort «Konsumenten», weil Musikhören für ihn etwas Aktives ist –, sondern auch für die Künstler ist die Situation ungemütlich. «Die Plattenfirmen», sagt er, «bieten keine Verträge mehr an, die den Musikern eine kontinuierliche Arbeit erlauben. Auch wenn diese viele Clicks verzeichnen, verdienen sie fast nichts. Viele begabte junge Leute können nicht von ihrer Musik leben.»

War früher alles besser? «Nicht alles, aber doch einiges», sagt McLaughlin lachend. «Die Plattenläden waren noch soziale Orte, in denen man Stunden verweilte. Und Miles Davis hat mir damals nicht nur musikalische Welten eröffnet. Er hat mir auch immer Geld zugesteckt, wenn ich klamm war.»

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Jazzrocker John McLaughlin: «Musik ist Mystik» | NZZ (2024)

FAQs

What happened to John McLaughlin? ›

Oliver shared their Watergate apartment during McLaughlin's tenure as speechwriter for President Nixon. After missing his first broadcast in 34 years, McLaughlin died on August 16, 2016, at his home in Washington, D.C. of prostate cancer at the age of 89.

What kind of music does John McLaughlin play? ›

Jazz fusion

Is John McLaughlin the greatest guitarist of all time? ›

He has been awarded multiple "Guitarist of the Year" and "Best Jazz Guitarist" awards. Jeff Beck called McLaughlin "the best guitarist alive", and Pat Metheny said he's the "world's greatest guitarist." 'This Moment' is nominated for a Grammy Awards for Best World Music Album.

Why is John McLaughlin called Mahavishnu? ›

The group's name originates from Indian spiritual leader and guru Sri Chinmoy, of whom McLaughlin had become a follower, who gave him the name Mahavishnu, "Maha" meaning "great" in Sanskrit and "vishnu" after the Hindu deity Vishnu.

Did Jimi Hendrix perform with John McLaughlin? ›

March 25, 1969 John McLaughlin, Jim McCarty, Buddy Miles, and Dave Holland join Jimi Hendrix at the Record Plant. - The Official Jimi Hendrix Site.

What is Jon McLaughlin famous for? ›

Jonathan McLaughlin (born September 27, 1982) is an American pop rock singer-songwriter, record producer and pianist from Anderson, Indiana. His debut album Indiana was released on May 1, 2007, preceded by his first EP Industry, also known as Jon McL, in February 2007.

Who is John McLaughlin's guru? ›

In 1970 he became a disciple of spiritual guru Sri Chinmoy; he acquired the name Mahavishnu and formed the Mahavishnu Orchestra in 1971.

What happened to the McLaughlin group on PBS? ›

Revival. The program was revived January 7, 2018 – retaining McLaughlin's name posthumously – reuniting the same panelists from the later years of the original run, joined by Tom Rogan as host. Airing on WJLA-TV in Washington, D.C. during its first few months, and then available only online through December 30, 2018.

What happened to James McLaughlin? ›

One of his assignments, in 1920, was investigating the Wounded Knee conflict of 1890. In 1921, McLaughlin completed fifty years of employment in the Indian Service. He died on July 23, 1923 in McLaughlin, South Dakota, a town that had been named for him in 1907.

Why did Mahavishnu Orchestra break up? ›

It was perhaps inevitable that the tension in the Mahavishnu Orchestra's music would bleed into the real world. The band that was so mystically tight on stage began to unravel. In a large part it was down to the widening gap between McLaughlin and Laird on one side, and Hammer and Goodman on the other.

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